Der Berliner Arzt, der das Nervensystem hackte
- Susanne Weber

- 15. Aug.
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Aug.
Wie ein vergessener Psychiater vor 100 Jahren das entwickelte, was heute jeder Gestresste braucht
Stell dir vor: Berlin, 1920er Jahre. Während die Stadt pulsiert und die Moderne Einzug hält, sitzt in einer schlichten Praxis ein Nervenarzt und macht eine revolutionäre Entdeckung. Er beobachtet, dass Menschen unter Hypnose alle dasselbe erleben – tiefe Ruhe, verlangsamten Herzschlag, entspannte Muskeln. Doch anstatt seine Patienten weiterhin in Trance zu versetzen, stellt sich Johannes Heinrich Schultz eine radikale Frage: Was wäre, wenn Menschen diese Zustände selbst herbeiführen könnten?
Der Mann, der dem Stress den Kampf ansagte
Johannes Heinrich Schultz war kein gewöhnlicher Arzt. Während seine Kollegen hauptsächlich auf Medikamente setzten, erforschte er systematisch die Macht des Geistes über den Körper. Der 1884 geborene Psychiater hatte eine Vision: Menschen sollten lernen, ihr eigenes Nervensystem zu steuern – ohne fremde Hilfe, ohne Substanzen, allein durch mentale Techniken.
Seine Ausgangslage war verblüffend einfach: In der Hypnose zeigten Patienten immer wieder dieselben körperlichen Reaktionen. Der Puls verlangsamte sich, die Atmung wurde tief und gleichmässig, die Muskeln entspannten sich vollständig. Schultz erkannte: Wenn der Geist diese Zustände unter Hypnose erreichen kann, müsste es auch einen Weg geben, sie bewusst und kontrolliert herbeizuführen.
Die geniale Umkehrung: Vom passiven Empfänger zum aktiven Steuermann
Hier liegt der Durchbruch, der Schultz' Methode so revolutionär macht: Statt von aussen entspannt zu werden, lernen Menschen beim Autogenen Training, ihre Entspannung selbst zu dirigieren. Es ist wie der Unterschied zwischen einem ferngesteuerten Auto und einem, das du selbst fährst – plötzlich hast du das Steuer in der Hand.
Schultz entwickelte sechs präzise formulierte "mentale Kommandos", die wie Direktbefehle an das vegetative Nervensystem funktionieren.
Das Verblüffende: Es funktioniert wie ein biologischer Schalter
Was Schultz damals nur vermuten konnte, bestätigt heute die Neurowissenschaft: Diese Formeln wirken tatsächlich wie Schalter im Nervensystem. Sie aktivieren den Parasympathikus – jenen Teil unseres autonomen Nervensystems, der für Ruhe und Regeneration zuständig ist. Innerhalb von Minuten können geübte Anwender ihren Körper vom Stress- in den Entspannungsmodus umschalten.
Das ist besonders faszinierend, weil es zeigt: Unser Nervensystem ist nicht nur ein automatisches System, das auf äussere Reize reagiert. Es kann bewusst gesteuert werden – wenn man weiss, wie.
Warum diese 100 Jahre alte Methode heute wichtiger ist denn je
Schultz konnte nicht ahnen, in welcher Welt wir heute leben würden. Permanent eingehende Nachrichten, ständige Erreichbarkeit, Multitasking als Normalzustand. Unser Nervensystem läuft auf Dauerstress – ein Zustand, für den es evolutionär nicht gemacht wurde.
Genau hier zeigt sich die Genialität seiner Erfindung: Autogenes Training ist wie ein Notausschalter für überhitzte Systeme. Es braucht keine Apps, keine KI und keine besonderen Umstände. Es ist jederzeit verfügbar – im Büro, im Zug, vor wichtigen Terminen.
Das Erbe eines Visionärs
Johannes Heinrich Schultz starb 1970 – doch seine Methode lebt weiter und erlebt gerade eine Renaissance. In Zeiten von chronischem Stress entdecken Menschen wieder die Kraft der bewussten Entspannung.
Was als Experiment eines neugierigen Berliner Arztes begann, ist heute eine wissenschaftlich anerkannte Methode der Selbstregulation. Schultz' Vision wird Realität: Innere Ruhe ist lernbar – für jeden, der bereit ist, sie zu üben.
Seine wichtigste Erkenntnis bleibt zeitlos: Die Macht über unser Wohlbefinden liegt nicht in äusseren Umständen – sie liegt in uns selbst. Wir müssen nur lernen, sie zu nutzen.



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